Fotologe oder doch Psychograf?
Abseits der eigentlichen Funktion als Dirigent und Auslöser ist man als Fotograf ja oft auch noch Hausmeister, Gärtner, Schneider, Visagist und Kleiderständer zugleich. Neben all diesen Tätigkeiten ist ein nicht ganz unerheblicher Teil der Arbeit, wenn nicht sogar der Wichtigste, die Interaktion mit den beteiligten Personen. Die zwischenmenschliche Komponente ist extrem wichtig und entscheidend für ein gutes Ergebnis. Sehr oft stellt sich aber genau diese so wichtige Kommunikation als eine Gratwanderung dar. Und zwar dann, wenn persönliche Probleme des Models ins Spiel kommen. Gerade hier muss man als Fotograf sehr viel Fingerspitzengefühl mitbringen.
Die Erfahrung zeigt, dass viele der oft relativ jungen Menschen mit teils doch gravierenden persönlichen Problemen zu kämpfen haben. Sehr häufig konnte ich das bisher vor allem bei meinen weiblichen Models beobachten. Für viele ist die Arbeit vor der Kamera zu einer Art Therapie geworden. Sei es als reine Beschäftigungstherapie oder aber um das eigene Selbstwertgefühl etwas ins Lot zu bringen. Mir geht es dabei vor allem um Letzteres. Von nicht vorhandenen Makeln bis hin zu gravierenden Persönlichkeitsstörungen ist da fast alles vertreten. So manche Horrorgeschichte lässt mich aber daran zweifeln, dass alle Fotografen verstanden haben was man bei diesen Menschen durch dumme und unüberlegte Kommentare kaputt machen kann.
Ich möchte keinesfalls Psychiater spielen und bin mit Sicherheit der falsche Ansprechpartner für therapeutische Ansätze. Aber ich weiß, das eine ungeschickte Bemerkung oder auch nur eine falsche Geste seitens Fotograf, Visagist oder sonstiger Personen am Set schon zu Selbstzweifeln und Unsicherheit beim Model führen kann. Nur die wenigstens von uns haben es mit Supermodels mit (fast) perfekten Körpern zu tun. Ein aufmerksamer Beobachter merkt in der Regel sehr schnell ob ein Model sich in seinem Körper wohlfühlt oder versucht selbst ausgemachte Problemzonen zu ‘verstecken’. Vermutlich haben die meisten Porträtfotografen es auch schon mal mit selbst hinzugefügten Verletzungen bzw. den Folgen zu tun gehabt. Wie soll man sich da verhalten? Ansprechen? Ignorieren? Und was macht man nach dem Shooting? Die etwas stärkeren Oberschenkel mit Photoshop verschlanken? Die Narben wegretuschieren? Oder doch lieber lassen? Natürlich kann (und sollte) man diese Sachen mit dem Model besprechen. Gerade hier ist aber Einfühlungsvermögen gefragt. “Stell dich mal anders hin, so sind deine Oberschenkel zu dick.” oder “Dreh mal den Arm nach hinten, dass man die komischen Narben nicht sieht.” sind auf jeden Fall keine Sätze die beim Gegenüber Begeisterung hervorrufen werden.
Ich selbst frage das Model meist ganz einfach offen, ob es Problemzonen bei sich selbst sieht oder wo es selbst seine/ihre Schokoladenseite sieht. Wenn euch das erzählt, dass es seine Oberschenkel zu dick findet kann man natürlich versuchen nur Oberkörper Bilder zu machen. Das ist in meinen Augen aber der falsche Ansatz. Er wird das Model nur in seiner Meinung bestärken. Redet lieber über vorhandene Bedenken. Macht ein paar Bilder. Zeigt sie dem Model und überlegt gemeinsam wie ihr beiden gerecht werden. Verzichtet lieber mal auf ein Bild anstatt dem Model eine Pose vorzugeben in der es sich nicht wohlfühlt. Ein Shooting ist Teamwork. Ich versuche immer mein Gegenüber in das Shooting einzubeziehen. Menschen wollen ernst genommen werden. Erst dann wird es die notwendige Vertrauensbasis geben, die zum einen zu guten Bilder führt, es aber auch erlaubt heiklere Themen anzusprechen ohne peinliches Schweigen oder Selbstzweifel heraufzubeschwören.
Zu guter Letzt: Ein Shooting ist kein Zahnarztbesuch. Fotografie soll Spaß machen. Und zwar beiden Seiten. Nicht immer sind schöne Bilder das Wichtigste. Manchmal ist es besser, die Kamera einfach beiseite zu legen und sich einfach mal mit dem Menschen gegenüber zu unterhalten oder vielleicht auch einfach nur zuzuhören. Das sollten wir alle bei dem Streben nach guten Bildern auf keinen Fall vergessen. Eine gute Zeit gehabt zu haben oder einem anderen Menschen diese geschenkt zu haben ist durch kein Bild der Welt ersetzbar.